Die Geschichte von der Schüssel
Jeden Tag ging eine alte chinesische Frau mit zwei grossen Schüsseln zum Brunnen, die sie an den Enden einer Holzstange trug – je eine auf jeder Seite ihrer Schultern. Die eine Schüssel war vollkommen makellos und trug stets die volle Menge Wasser nach Hause. Die andere Schüssel hingegen hatte einen Sprung. Schon auf halbem Weg begann das Wasser langsam herauszutropfen, und am Ende des langen Rückwegs war sie nur noch halb gefüllt.
Die makellose Schüssel war stolz auf ihre Leistung – jeden Tag tat sie genau das, wofür sie gemacht worden war. Die gesprungene Schüssel aber fühlte sich ungenügend. Sie schämte sich dafür, nicht voll zu funktionieren, und litt darunter, dass sie „nicht gut genug“ war.
Eines Tages, nach Jahren des stillen Leidens, sprach die beschädigte Schüssel zur alten Frau:
„Ich schäme mich so. Ich weiss, dass du durch mich weniger Wasser heimtragen kannst. Jeden Tag verliere ich einen grossen Teil des Wassers, das du mühsam geschöpft hast. Bitte ersetze mich – ich bin nicht richtig und schade dir nur.“
Die alte Frau blieb stehen, lächelte liebevoll und sagte:
„Ist dir nie aufgefallen, dass auf deiner Seite des Weges wunderschöne Blumen wachsen – aber auf der anderen Seite nicht? Ich habe dort Blumensamen gesät, weil ich wusste, dass du Wasser verlieren würdest. Jeden Tag hast du sie ganz nebenbei gegossen – und dank dir konnte daraus etwas Wunderschönes entstehen.“
Die Schüssel schwieg. Zum ersten Mal sah sie ihre vermeintliche Schwäche nicht als Mangel – sondern als Beitrag. Ihre Risse hatten nicht versagt. Sie hatten etwas möglich gemacht, das die perfekte Schüssel niemals hätte bewirken können.
Fazit
Diese einfache Geschichte erinnert uns daran, dass auch (oder gerade) unsere vermeintlichen Schwächen einen Sinn haben können. Was wir an uns als Fehler empfinden, ist oft genau das, was anderen oder der Welt einen besonderen Wert bringt.
Die Positive Psychologie lehrt uns, das Gute im Unvollkommenen zu erkennen – unsere eigenen „Sprünge“ nicht nur zu akzeptieren, sondern zu würdigen. Denn oft entsteht gerade daraus etwas Schönes, Lebendiges, Sinnvolles. Wir müssen nicht perfekt sein, um etwas Wertvolles beizutragen. Wir dürfen einfach echt sein.